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Titel
Ort, Subjekt, Verbrechen. Koordinaten historisch-politischer Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus


Herausgeber
Hilmar, Till
Erschienen
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Verena Haug, Gedenkstätte KZ-Außenlager Braunschweig Schillstraße

Als im Jahr 1995 eine erste Bestandsaufnahme ortsbezogener Geschichtsvermittlung vorgenommen wurde – fokussiert auf die Geschichte des Nationalsozialismus1 –, ging es auch darum, einen Begriff zu prägen. „Gedenkstättenpädagogik“ sollte als ein Handlungsfeld profiliert werden, um so nicht zuletzt die gesellschaftliche Bedeutung der Orte zu unterstreichen. Der Begriff wurde und wird dem tatsächlichen Spektrum unterschiedlicher Orte, Akteure und Perspektiven jedoch nur teilweise gerecht. Die von Till Hilmar herausgegebene Aufsatzsammlung „Ort, Subjekt, Verbrechen“ stellt in gewisser Weise eine aktualisierte Bestandsaufnahme dar. Diese konzentriert sich aber nicht nur auf die Praxis, und schon gar nicht ausschließlich auf Gedenkstätten, sondern fächert theoretische Bezüge und derzeit diskutierte Konzepte auf. Das Buch ist das Ergebnis des dreijährigen, in Österreich geförderten Projekts „studienfahrten.at“.2 Dass der Band selbstbewusst beansprucht, mit dem Projekt die Koordinaten einer professionalisierten Bildungsarbeit abzustecken (S. 9) erscheint zwar etwas hoch gegriffen. Den erreichten Grad der Professionalisierung und Theoretisierung eines pädagogischen Praxisfeldes beschreibt er aber in jedem Fall.

Die 21 Aufsätze des Bandes sind in drei Teile gegliedert. Diese beabsichtigen, erstens „die eigenen Ansprüche an Erinnerung und historisch-politische Bildung zu klären, sich zweitens Gedanken über Ort und Art der Vermittlung und die Auswahl der Themen zu machen und sich drittens die gesellschaftlichen Bedingungen des Lernens gerade zu diesem Thema zu vergegenwärtigen“ (S. 15). Der durchaus plausiblen Gliederungsidee wird die Sortierung der Beiträge leider nicht ganz gerecht. Theoretische, praxisorientierte und konzeptionelle Fragen mischen sich in allen Teilen, so dass eine thematische Orientierung eher verschwindet als entsteht.

Den Auftakt des ersten Teils („Bildungsprogramme zum Nationalsozialismus und Ansprüche von Studienfahrten“) macht Matthias Heyl mit einem Grundsatzreferat. Er verortet die Bildungsarbeit zum Thema Nationalsozialismus in der (bundesdeutschen) Erinnerungspolitik und -kultur und setzt sie in Beziehung zu der die Rahmenlehrpläne der Länder beherrschenden Kompetenzdebatte. Darüber hinaus diskutiert er pointiert eine nur im Begriff der Empathie getarnte Betroffenheitspädagogik und stellt ihr die Forderung (und Möglichkeit) einer „mehrfachen Subjektorientierung“ (S. 41) als Teil pädagogischer Professionalität entgegen. Florian Wenninger arbeitet in kritischer Auseinandersetzung mit der opferzentrierten Bildungsarbeit des Österreichischen Gedenkdienstes heraus, wie ertragreich es sein kann, auch dem Täterhandeln genauer nachzugehen. Das vorgestellte Konzept bleibt nicht bei der Auseinandersetzung mit der Geschichte „verschwundener“ Juden stehen (wie es etwa bei den weit verbreiteten „Stolperstein“-Recherchen meist der Fall ist), sondern fragt ebenso nach den beteiligten „Volksgenossen“, den Täter/innen und ihren Unterstützer/innen. Dies eröffnet nach Wenningers Erfahrung rege Diskussionen unter den Teilnehmer/innen, provoziert Schuldabwehr und Inschutznahme der beteiligten historischen Personen bis hin zu verschwörungstheoretischen Annahmen über den Auftrag der Organisation Gedenkdienst. Dass solcherlei Betroffenheitsartikulation interessante Diskussionsmöglichkeiten ergibt, ist nachvollziehbar. Wie aber aus der offengelegten Täteridentifikation weiterführende Erkenntnis erwachsen kann, bleibt unklar.

Die drei folgenden Beiträge von Till Hilmar, Peter Larndorfer sowie Till Hilmar und Klaus Kienesberger beleuchten theoretische Grundlagen und praktische Ausgestaltung der Studienfahrten des Gedenkdienstes sowie die Konzeption der Ausbildung der Guides. Anschließend stehen wieder grundsätzlichere Fragen im Mittelpunkt: Anne Frölich wirbt für den Diversity-Ansatz, um so genannten heterogenen Gruppen zu begegnen; Michael Franke, Olaf Kistenmacher, Anke Prochnau und Katinka Steen stellen die Motivationen, Herangehensweisen und Erfahrungen der „Genderwerkstatt“ vor. Dieser Zusammenschluss von Gedenkstättenmitarbeiter/innen und Wissenschaftler/innen analysiert seit einigen Jahren nicht nur die geschlechterblinden Flecken von Ausstellungen, pädagogischen Angeboten und Interaktionen in Gedenkstätten, sondern entwickelt auch geschlechterreflektierende Konzepte für unterschiedliche Wahrnehmungs- und Handlungsebenen von Vermittler/innen der NS-Geschichte.

Der zweite Teil („Gedenkstättenarbeit: Pädagogisches Arbeiten vor Ort und Methoden der Vermittlung“) enthält erwartungsgemäß vor allem Praxisberichte. Im ersten Aufsatz des Abschnitts legt Andreas Schmoller überzeugend dar, wie historisches Lernen und politische Bildung im Konzept der KZ-Gedenkstätte und dem Zeitgeschichte-Museum Ebensee verknüpft werden. Er zeigt, wie Multiperspektivität als didaktisches Prinzip sowohl für die Geschichtsbetrachtung als auch für das Verstehen von Erinnerungspolitik eingesetzt werden kann, ohne die „Anlassgeschichte“ durch die Rezeptionsgeschichte zu ersetzen (vgl. Heyl, S. 31f.). Matthias Heyl, Thomas Kunz und Angelika Meyer stellen Mehrtagesseminare der Gedenkstätte Ravensbrück vor; Felizitas Raith erläutert die pädagogische Arbeit des Max-Mannheimer-Studienzentrums in Dachau. Christian Geißler und Gottfried Kößler skizzieren den Einsatz ausgewählter Übungen aus dem Konzept „Konfrontationen“ bei mehrtägigen Gedenkstättenfahrten. Barbara Thimm fasst die Ergebnisse des Bundesmodellprojekts „Gedenkstättenpädagogik und Gegenwartsbezug“ zusammen3, Klaus Kienesberger reflektiert über das positive Lernpotenzial von Widerstandsgeschichte, Lukas Meissel betont die Bedeutung der Auseinandersetzung mit NS-Täter/innen, Johann Kirchknopf und Lukas Meissel stellen das Ausbildungskonzept der österreichischen Gedenkdienstleistenden vor.

Den Abschluss dieses wenig strukturierten Praxisteils bildet ein Bericht von Martin Krist über Schulexkursionen nach Auschwitz. Dieser Aufsatz wirft die meisten Fragen an das herausgeberische Konzept auf, weil hier gleich mehrere der zuvor entfalteten Kriterien professioneller Arbeit in Gedenkstätten ins Wanken geraten: Die Reise nach Auschwitz bildet nicht nur den „Höhepunkt“ einer jahrelangen schulischen Beschäftigung mit dem Holocaust. Zudem bleibt ein „Zeitzeuge“ („der mit donnernder Stimme seinen linken Hemdsärmel aufkrempelte“, S. 267) die wichtigste Beeindruckungsinstanz. Der durch O-Töne und Gedichte von Schülerinnen (ausnahmslos Mädchen; so viel zur Feminisierung der gedenkstättenpädagogischen Ziele) durchbrochene und illustrierte Erfahrungsbericht eines Lehrers zieht ausschließlich Betroffenheitsbekundungen als Belege für eine erfolgreiche Pädagogik heran. Andererseits zeigt sich wohl gerade darin eine nach wie vor gültige Koordinate der pädagogischen Arbeit an und in Gedenkstätten, die bei den versammelten Reflexionen und theoretischen Unterfütterungen pädagogischer Praxis fast aus dem Blick geraten wäre.

Den dritten Teil („Migrationsgesellschaft: Strukturen und Bedingungen des Lernens“) eröffnet Astrid Messerschmidts Beitrag über ihr Konzept des „involvierten Erinnerns“. Damit ist, stark vergröbert, eine Auseinandersetzung mit Geschichte gemeint, die von heterogenen Erfahrungen geprägt ist, aber in einem „gemeinsamen gesellschaftlichen Raum“ repräsentiert wird. Messerschmidt plädiert nachdrücklich dafür, Migrant/innen nicht als Sonderfall für Bildungsangebote zu verstehen, sondern vielmehr Bildungsangebote im Kontext einer Migrationsgesellschaft zu entwickeln. Die folgenden Beiträge von Ines Garnitschnig und Nora Sternfeld schließen sich dieser Prämisse an; sie diskutieren Ergebnisse und Methoden des österreichischen Projekts „‚Und was hat das mit mir zu tun?’ Transnationale Geschichtsbilder zur NS-Vergangenheit“ des Wiener Büros trafo.K.4 Während Garnitschnig zu dem Schluss kommt, dass konzeptionelle Überlegungen zur Einbeziehung migrantischer Bezüge zur NS-Geschichte in der „österreichischen Dominanzkultur“ noch ausstehen (S. 320), stellt Sternfeld konkrete Arbeitsweisen von trafo.K vor: Jugendlichen soll ermöglicht werden, eigene Perspektiven auf das Thema zu entwickeln, „ohne davon auszugehen, dass alle Perspektiven die gleiche Bedeutung und Macht oder [...] die gleiche Legitimität haben“ (S. 337). Eine solche offene, aber nicht beliebige Haltung gegenüber Thema und Beteiligten fordert belehrende und häufig moralisierende Formen der Vermittlungsarbeit schwer heraus, bietet dafür aber eine Vielzahl beachtlicher Denkanstöße und Handlungsoptionen. Den Abschnitt beschließen Beiträge über die Bildungskonzepte zweier Berliner Institutionen, die sich seit geraumer Zeit mit Fragen interkulturellen (auch interreligiösen) historischen Lernens befassen: der Bildungsträger Miphgasch/Begegnung e.V. (Aufsatz von Franziska Ehricht) und das Anne-Frank-Zentrum (Patrick Siegele).

Entgegen der jüngst artikulierten Diagnose Harald Welzers5, die (deutsche) Erinnerungskultur sei auch auf ihrer bildungspraktischen Seite vor allem opferzentriert und wenig zeitgemäß, kann mit einer gewissen Überzeugung behauptet werden: Es gibt auch anders lautende Konzepte. Der vorliegende Band macht solche gebündelt wahrnehmbar. Bemerkenswert ist auch, dass hier neben „alten Hasen“ eine jüngere Altersgruppe zu Wort kommt, über die bis vor kurzem noch als Zielgruppe der Bildungsarbeit diskutiert und spekuliert worden ist. Sie greift Fachdiskussionen auf und treibt sie differenziert weiter. Inwieweit das die offizielle Erinnerungskultur beeinflusst, bleibt abzuwarten. Dennoch ist bedenkenswert, was Matthias Heyl eingangs formuliert: „Unsere heutige Rede wird Teil der Überlieferung von morgen sein“ (S. 26) – fragt sich nun noch, wer mit „uns“ gemeint ist.

Anmerkungen:
1 Annegret Ehmann u.a. (Hrsg.), Praxis der Gedenkstättenpädagogik. Erfahrungen und Perspektiven, Opladen 1995.
2 <http://www.studienfahrten.at>, (29.11.2011).
3 Barbara Thimm / Gottfried Kößler / Susanne Ulrich (Hrsg.), Verunsichernde Orte. Selbstverständnis und Weiterbildung in der Gedenkstättenpädagogik, Frankfurt am Main 2010 (rezensiert von Eckart Schörle, 9.12.2010: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-4-177>(29.11.2011)).
4 <http://www.sparklingscience.at/de/projekte/312-transnationale-geschichtsbilder/> (29.11.2011).
5 Harald Welzer, Für eine Modernisierung der Erinnerungs- und Gedenkkultur, in: Gedenkstättenrundbrief Nr. 162 (8/2011), S. 3-9; dazu Habbo Knoch, Mehr Wissen und mehr Recht: Koordinaten einer künftigen Erinnerungskultur. Eine Replik auf Harald Welzer, in: Gedenkstättenrundbrief Nr. 163 (10/2011), S. 3-11; Ulrike Schrader / Norbert Reichling, Modernisierung oder "Neuformatierung"? Was Gedenkstätten für ihre reflexive Weiterentwicklung (nicht) brauchen. Stellungnahme zum Beitrag von Harald Welzer, in: Gedenkstättenrundbrief Nr. 164 (12/2011), S. 3-8.